Nachdem ich beim letzten Mal geschildert habe, wie sich ein Tief für mich anfühlt, versuche ich heute einen Einblick in meinen Alltag mit meiner Depression zu geben. Heute geht es nicht um die Tiefphasen, sondern um die "normalen" Zeiten, um die Zeiten zwischen den Tiefs.
Vergesst beim Lesen bitte nicht, dass ich hier mein eigenes Erleben und
meine eigenen Erfahrungen wiedergebe! Jeder Depressive erlebt die
Krankheit auf seine eigene Art und Weise. Die Symptome können sehr
verschieden sein. Alles, was ich zu diesem Thema schreibe, schreibe ich
als "Betroffene". Ich habe keinen medizinischen oder sonstigen
fachlichen Hintergrund, sondern berichte von mir und meinen Erfahrungen
mit der Krankheit. Die grundlegenden Dinge, die hinter einer Depression
stecken, habe ich mir in verschiedenen Fachbüchern und im Internet
angelesen.
Wie ist dein Alltag mit deiner Depression, wenn du kein Tief hast? Merkst du die Krankheit dann auch?
Das ist sehr phasenabhängig. Ich versuche euch, die Phasen mal auseinander zu dröseln, um sie nachvollziehbar zu machen.
Es gibt Zeiten, wo ich mich richtig "normal" fühle. Das sind die Tage oder Wochen, wo ich quietschfiedel durch die Gegend renne und ein geregeltes Leben führe. Klar, es gibt auch dann Tage, wo ich mal mies drauf bin. Aber das sind dann die normalen Schlechte-Laune-Tage, die jeder mal hat. Die sind mit einem Tief im Sinne von "depressivem Tief" in nichts vergleichbar. Genauso gehören aber auch richtig schöne, gut gelaunte Tage dazu. Mit Freude, die von Herzen kommt, und Lachen, das aus dem Bauch heraus gluckert.
Dann gibt es Zeiten, wo ich schwanke. Da fühle ich mich innerlich nicht stabil. Ich merke, dass irgendwas nicht stimmt, ohne es genauer einzuordnen. Oder eher: ohne es genauer einordnen zu wollen, aus Angst vor dem nächsten Tief (Dass ich damit nur die Augen vor den Warnsignalen meines Körpers verschließe, ist wahrscheinlich logisch, oder?). In diesen Tagen habe ich Hochphasen, in denen ich sehr überdreht bin. Sehr hektisch, sehr mitreißend, sehr unternehmungslustig. Aber anschließend kommt das genaue Gegenteil. Ich bin sehr müde, sehr antriebslos, sehr dünnhäutig. Gerade das ist für mich und mein Umfeld schwer einschätzbar. Wenn ich in den extrem Hochphasen-Tagen stecke, fühle ich mich super und bin ein wenig so, wie man mich von früher kennt. Immer auf Action, immer unterwegs, immer mit offenen Augen vorne weg. Doch dann kommt das, was ich von meinen Tiefs kenne, in abgeschwächter Form. Ich ziehe mich zurück um die ganzen Reize von der vorhergehenden Hochphase zu verarbeiten. Das ständige Hochgeputschtsein fordert seinen Tribut und zwingt mich zu völliger Ruhe und viel Schlaf um die fehlende Energie langsam wieder aufzubauen. Ich bin dann mit mir selbst auch sehr im unreinen, weil ich es ja hätte kommen sehen können. Weil ich es doch hätte besser wissen müssen. Weil, weil, weil. Doch dann folgen wieder Hochphasen-Tage, an denen ich mich richtig gut fühle. An denen das Müde-Gefühl weit weg ist und ich wieder voller Energie stecke. Selbst wenn ich mir das in dem Moment bewusst mache, kann ich mich schwer bremsen und meine innere Unruhe, meine innere Energie nicht wirklich beruhigen. So folgt ein Auf und Ab dem anderen. Bis es irgendwann wieder ruhigere Phasen gibt und die Schwankungen aufhören.
Es gibt nämlich auch Phasen, so wie jetzt gerade. Mir gehts nicht besonders schlecht, mir gehts nicht besonders gut. Ich versuche zu funktionieren, um den Alltag zu überstehen. Kleinigkeiten fordern enorme Energie. Aber ich merke das und reagiere dann mit genügend Ruhe. Doch die Depression behindert mich in diesen Momenten sehr. Ich brauche viel Ruhe und Zeit nur mit mir (und Mina) allein. Äußere Reize strengen mich sehr an. Das Funktionieren im Alltag (sowohl im Beruf, als auch privat unter Freunden und im Haushalt) ist sehr anstrengend. Fast meine gesamte vorrätige Energie geht dafür drauf. Auf das "Normal-Sein", auf das alltägliche Leben. Die Reizüberflutung kommt in diesen Zeiten auch sehr schnell. Einfach deshalb, weil das Funktionieren schon so viel Energie frisst, dass für die Reizverarbeitung fast nix mehr da ist. Sobald es dann um mich herum laut oder trubelig wird, ziehe ich mich in mich selbst zurück. Mein Kopf macht "zu". Ich kann dann nichts mehr wahrnehmen, alles ist mir zuviel, was von außen auf mich einprasselt. Das Filtern von Sinnesreizen nach "wichtig" oder "unwichtig" ist in diesen Momenten sehr schwierig, weil einfach alles ungefiltert in mich eindringt. Ich nehme alles wahr, was um mich herum geschieht. Und das ist in einer so geballten Form, dass ich am liebsten weg rennen und fliehen möchte. Natürlich nehme ich dann die eigentlich wichtigen Informationen aus meiner Umwelt nur als einen Bruchteil von vielen Informationen wahr. Doch ich möchte ja funktionieren. Und siehe da, wieder verwende ich Unmengen an Energie auf das Funktionieren, indem ich dann versuche, die auf mich eindringen Reize doch zu filtern. Das geht nur in einem gewissen Rahmen und irgendwann wird der Wunsch nach RUHE und Rückzug so groß, dass ich nur noch nach Hause in meine eigenen vier Wände möchte. Da stelle ich dann Telefon, Handy und Laptop aus. Alles reizarm. Zur Zeit gibt es wirklich Samstage oder Sonntage, an denen ich mit niemandem rede, außer mit Mina (und die ist nicht sooo redselig). Einfach, weil ich so in mir drin mit mir selbst beschäftigt bin. Weil ich zu mir selbst zurück finden muss. Weil ich die Ruhe in mir drin und meine innere Mitte suche. Zur Zeit fällt es mir schwer, soziale Kontakte in "echt" zu pflegen. Mir fällt es nicht leicht, feste Termine auszumachen und einzuhalten, weil ich nicht einschätzen kann, ob es an dem festgelegten Termin gerade mit mir geht. Oder ob ich nicht eher nach Hause auf die Couch gehöre, mit Mina an meiner Seite und sonst nichts. Für Hunderunden oder sonstige kleine Unternehmungen nach Feierabend setze ich häufig meine Mütze auf und ziehe sie weit über meine Ohren. Durch die Mütze werden die akustischen Reize stark gedämmt. Das tut total gut. Meine Emotionen sind in diesen Zeiten ein Stück weit gedämpft. Ich fühle ein bißchen hier und ein bißchen da, ein bißchen traurig, aber auch ein bißchen Freude. Ich bin nicht so gefühlsgelähmt, wie bei einem Tief. Aber ich empfinde auch nicht tiefgehende Freude, wie in einer "normalen" Phase.
Doch auch diese Phase, in der ich mich ja gerade befinde, wird nicht für immer anhalten. Das weiß ich vom Kopf her. Und doch möchte ich gern mal wieder für längere Zeit stabil sein. Einfach "normal" durch den Alltag gehen, ohne große Gemütsschwankungen und ohne ständigen Energieverlust durch ein Funktionieren-Müssen. Irgendwann werde ich wieder Energie in mir drin haben, die es mir ermöglicht, einige Tage oder Wochen oder Monate einen geregelten Alltag zu führen. Mit Tagen, an denen ich tun kann, worauf ich Lust habe. Weil ich Lust drauf habe und weil ich die Energie dafür habe. Auf diese Zeiten freue ich mich und sie sind mein Ziel. Sie sind der Grund, warum ich weiterhin an mir und meiner Depression arbeite. Weil ich weiß, dass es wieder geregeltere Zeiten gibt, mit Lachen, das aus dem Bauch heraus gluckert.
Natürlich muss ich auch dann damit rechnen, dass irgendwann wieder ein Tief kommen kann. Die Rückfallquote bei einer Depression besteht leider. Doch damit habe ich mich abgefunden. Was ist schon berechenbar? Eine Krankheit, wie die Depression, bestimmt nicht. Und während ich heute vielleicht noch völlig erschlagen bin und mich am liebsten für immer verkriechen möchte, kann ich Morgen vielleicht das erste Mal seit langem wieder tiefe, reine Freude empfinden. Auch das ist das Unberechenbare an einer Depression.
Seid ihr neugierig auf die anderen Teile meiner Reihe "Was heißt Depression für mich?"?
Hier kommen die anderen Fragen und die Klicks zu den jeweiligen Antworten:
- Teil 1: Depressionen bezeichnet man doch als Krankheit im Kopf? Was passiert da genau? KLICK
- Teil 2: Hängt deine Therapie direkt mit deiner Depressionen zusammen? Warum wird deine Depression durch
"alten Kram" verstärkt? KLICK
- Teil 3: Wie fühlt sich ein Tief an? Was passiert, wenn du weinen musst? Hast du Angst? Wodurch wird dieses Bedürnis ausgelöst? Hast du
dabei auch Kopf- oder andere körperliche Schmerzen? KLICK
- Teil 5: Was erwarte ich von meinen Freunden? KLICK
- Teil 6: Warum machst du während eines Tiefs so viele Ausflüge? KLICK
- Teil 7: Wie sieht die Welt aus deinen Augen in Tiefphasen aus? KLICK